Wer kennt das nicht: Während wir im Webinar versuchen aufzupassen, wollen wir noch schnell zwei E-Mails beantworten. Doch da kommt gerade die Push-Benachrichtigung der besten Freundin auf WhatsApp mit einem Link zu unserem Lieblingsparfüm im Sale. Eigentlich will man nur kurz draufklicken, um zu sehen, was sich dahinter verbirgt, aber ruck zuck hat man plötzlich 10 Minuten lang den Warenkorb gefüllt - endlich geschafft, so lange wollte man das Parfum schon kaufen.

Was in den letzten 10 Minuten im Webinar passiert ist, weiß man aber leider nicht mehr so genau. Und waren da nicht auch noch zwei E-Mails zu beantworten?

 

Digitale Ablenkungen – Wie das Internet unsere Aufmerksamkeit erregt und hält

Tatsächlich wurde dieses Phänomen der Fokuslosigkeit und abschweifenden Aufmerksamkeit erstmals 2011 von David Levy als Popcorn-Brain-Effekt beschrieben. Die Metapher leitet sich von der Vorstellung ab, dass unsere Gedanken häufig von einer Information zur nächsten springen, ähnlich wie Popcornkörner in einer Pfanne, die unerwartet links und rechts aufspringen.

Das Auftreten dieses Effekts wird v.a. mit übermäßiger Bildschirmzeit und der Nutzung sozialer Medien in Verbindung gebracht. Mit ihren endlosen Pings, News, Likes und Push-Benachrichtigungen sind Social-Media-Plattformen (natürlich) darauf ausgelegt, unsere Aufmerksamkeit ständig an sich zu ziehen. Dieses permanente Engagement löst aber nicht nur jedes Mal eine kleine Dopaminausschüttung in uns aus, die unseren Konsum weiter antreibt, sondern führt vor allem zu Reizüberflutung, Zerstreuung und Fokuslosigkeit.

Jüngste Untersuchungen der University of California haben gezeigt, dass die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne auf einem Bildschirm, bevor man sich einem anderen Thema zuwendet, von 2,5 Minuten im Jahr 2004 über 75 Sekunden im Jahr 2012 auf heute 47 Sekunden gesunken ist. An dieser Stelle des Artikels wäre es damit bereits sehr kritisch, denn du könntest bereits geneigt gewesen sein, abzudriften. Neben dem inhaltlichen Aspekt trainierst du also gerade auch noch erfolgreich deine Aufmerksamkeit 😊

Eine weitere spannende und zugleich besorgniserregende Erkenntnis lieferten Yeykelis et al. [2014], indem sie das Online-Medienverhalten von Teilnehmenden beobachteten, die während der gesamten Untersuchung lediglich ein einziges Gerät - ihren persönlichen Laptop - verwendeten. Sie stellten dabei fest, dass im Schnitt alle 19 Sekunden ein Wechsel stattfand, wobei 75% der Bildschirminhalte weniger als eine Minute lang angesehen wurden.

Doch was macht diese Ablenkung so verführerisch? Unsere Smartphones haben zu einem weit verbreiteten und gewohnheitsmäßigen "Checking"-Verhalten geführt, das durch schnelles, aber häufiges Überprüfen des Geräts auf eingehende Informationen aus Nachrichten, sozialen Medien oder persönlichen Kontakten gekennzeichnet ist. Man geht davon aus, dass diese Gewohnheiten das Ergebnis einer Verhaltensverstärkung durch "Informationsbelohnungen" sind, die man unmittelbar nach dem Checken des Geräts erhält.

Was aber, wenn diese Ablenkungen nicht nur ein ungeliebtes Ärgernis sind, sondern tatsächlich unsere Fähigkeit beeinträchtigen, Informationen effektiv zu verarbeiten und zu behalten, also unsere Lernfähigkeit vermindern?

Die Frage ist berechtigt, denn das Potenzial digitaler Plattformen unsere Aufmerksamkeit zu fesseln, macht es dringend erforderlich, die Auswirkungen zu verstehen, die dieses Verhalten auf unsere Denkprozesse und unser Wohlbefinden haben kann.

 

Kognitives Chaos

Die ständige Bombardierung unseres Gehirns mit Benachrichtigungen schränkt unsere Fähigkeit, uns auf einzelne Aufgaben zu konzentrieren, immer weiter ein und führt zu einem Teufelskreis, indem wir nach immer mehr Reizen suchen, was unsere Aufmerksamkeitsspanne weiter verringert.

Untersuchungen aus dem Jahr 2019 zeigen, dass das Internet unsere Wahrnehmung sogar aktiv verändert [Firth et. al, 2019]. Durch die ständige und schnelle Interaktion mit sozialen Medien wird unser Gehirn darauf trainiert, kurze Informationspakete zu bevorzugen, wodurch eine anhaltende Aufmerksamkeit für einzelne Aufgaben immer schwieriger wird. Das wiederum schränkt unsere Konzentrationsfähigkeit erheblich ein, lässt unsere Produktivität entgleisen und hat dabei gravierende Auswirkungen auf unser Lernvermögen.

Ophir et al. [2009] führten als eine der ersten eine wegweisende Studie durch, die die nachhaltigen Auswirkungen von Medien-Multitasking auf die kognitiven Fähigkeiten untersuchte. Es handelte es sich um eine Querschnittsstudie, in der Personen, die starkes Medien-Multitasking betrieben, mit Personen verglichen wurden, die dies nicht taten. Die Vergleichstests der beiden Gruppen ergaben das damals sehr überraschende Ergebnis, dass diejenigen, die starkes Medien-Multitasking betrieben, bei Tests zum Aufgabenwechsel schlechter abschnitten als ihre Kollegen. Eine genauere Betrachtung der Ergebnisse deutet darauf hin, dass die eingeschränkte Fähigkeit zum Aufgabenwechsel bei Personen mit starkem Medien-Multitasking auf ihre erhöhte Anfälligkeit für Ablenkungen durch irrelevante Umweltreize zurückzuführen ist.

 

Dem Popcorn-Brain aktiv entgegenwirken

 Uns allen ist längst klar, dass dieses sprunghafte Verhalten zu hohem Zeitverlust führt, unsere Konzentrationsfähigkeit im Alltag stark beeinträchtigt und am Ende des Tages manchmal sogar mit großer Scham und Schuldgefühlen einhergeht. Der selbstgesteuerte Umgang mit diesen Ablenkungen ist damit von entscheidender Bedeutung. Die folgenden Tipps können beim richtigen Umgang mit dem Popcorn-Phänomen helfen.

  1. Kultivieren der Self-Awareness: Das Schulen der eigenen Selbstwahrnehmung hilft dabei, die Konzentrationsfähigkeit richtig einzuschätzen und darauf aufbauend, realistische Ziele festzulegen. Die meisten Menschen sind nicht in der Lage, ihre Konzentrationsfähigkeit ehrlich einzuschätzen und können daher auch keinen wirksamen Plan zur Verbesserung erstellen. Eine wirkliche Verbesserung ist mit dem Bewusstsein über unsere eigene Zerstreutheit aber meist noch nicht erreicht.
  2. Mache dir eine Routine: Suche dir z.B. jeden Tag zur gleichen Zeit und in der gleichen Umgebung eine bestimmte Zeitspanne (basierend auf deiner Konzentrationsgrenze), um dich auf eine einzige Aufgabe zu konzentrieren. Diese konsequente Praxis stärkt die Gewohnheiten und bereitet Geist und Körper darauf vor, sich über einen längeren Zeitraum auf eine bestimmte Aufgabe zu konzentrieren, ohne dass man ein „Popcorn-Brain” bekommt. Die Einführung fester Routinen kann uns helfen, negativen Gewohnheiten wirksam entgegenzuwirken und häufigere konzentrierte, produktive Arbeitsphasen zu schaffen.
  3. Apps nutzen, aber richtig: Apps können uns in vielerlei Hinsicht unseren Alltag vereinfachen und natürlich auch unser Lernen durch gezielte Interaktionen unterstützen und begleiten. Aber denk dran: Kontrolliere – insbesondere bei der Nutzung sozialer Medien - deine Bildschirmzeit und setze, wenn nötig, Zeitlimits für deren Nutzung. Das Abschalten von Benachrichtigungen für unwichtige Apps hilft außerdem, sich besser zu fokussieren.
  4. Einführung von technikfreien Zonen: Viel online verlangt manchmal auch einfach nach konsequentem Offline. Das klappt bereits mit kleinen Dingen, indem man beispielsweise sein Telefon weglegt, bevor man mit der produktiven Arbeit beginnt. Und natürlich bietet es sich an, beim nächsten Spaziergang in der Natur sein Handy auch mal daheim zu lassen.

Ja…wir alle kennen viele Tipps in diese Richtung. Umso wichtiger, und daran scheitern wir dennoch häufig, ist es, diese auch wirklich umzusetzen, denn diese einfachen Maßnahmen sind es, die unsere Konzentrationsfähigkeit und Produktivität bereits erheblich steigern.

Mein Tipp für das nächste Mal, wenn ihr euch selbst wieder dabei ertappt, E-Mails und WhatsApp-Benachrichtigungen zu überprüfen, während ihr eigentlich einem Webinar folgen wolltet: Lieber bei einer Aufgabe bleiben, statt alles gleichzeitig! Denn die ständigen kleinen Wechsel berauben uns erheblich unserer kognitiven Leistungsfähigkeit.

 

Aber zum Schluss noch die gute Nachricht: Wer es geschafft hat, allen Ablenkungen zu widerstehen und bei diesem Artikel bis hier her dranzubleiben, der hat bereits zwei Dinge erreicht: Erstens kann man sich selbst zweifellos als wissbegierig und immer auf der Suche nach persönlicher Entwicklung betrachten und ist zweitens auf dem besten Weg, sich dem Popcorn Brain auch in Zukunft zu widersetzen.

Dr. Katharina Vögl-Duschek
Post by Dr. Katharina Vögl-Duschek
Jul 3, 2024 10:47:50 AM